Dritte*Orte Archiv & die Kartografie der Dinge
Eine Einordnung der Kunsthistorikerin, freien Autorin und Kuratorin Emily Nill (Juni 2025):
Das Projekt DritteOrte Archiv verbindet künstlerische Forschung mit Theorien des sozialen Raums, der materiellen Kulturgeschichte und partizipativer künstlerischer Praxis. Durch die ästhetisch-ethnografische Arbeitsweise der sogenannten Kartografie der Dinge werden vergangene, bestehende und zukünftige dritte Orte in München dokumentiert. Der Projektname verweist lose auf das Konzept der third places, das der Soziologe Ray Oldenburg in The Great Good Place Ende der 1980er Jahre formulierte. Oldenburg bezog sich dabei idealtypisch auf Orte des informellen, freiwilligen Zusammenkommens außerhalb von Zuhause (first place) und Arbeitsplatz (second place), die sich durch niederschwellige Zugänglichkeit, soziale Durchmischung, Vertrautheit, Gesprächskultur und eine entspannte, oft spielerische Atmosphäre auszeichnete. Realisiert sah er das Ganze in Orten wie Cafés, Parks, Kneipen oder Friseurläden. Im Projekt DritteOrte Archiv wird dieser Begriff jedoch kritisch erweitert und differenziert. Was ein dritter Ort ist, definieren die Menschen, die ihn nutzen. Neben Orten, an denen sich gesellschaftliche Gruppen sichtbar mischen, können das auch subkulturelle oder community-spezifische Räume sein – etwa ein queerfeministischer Buchladen, ein westafrikanischer Friseursalon oder ein Copyshop, der ein generationsübergreifender Treffpunkt ist. Diese Orte bieten ihren Gästen oft Schutz, weil sich darin niemand erklären oder verstellen muss. Nicht zuletzt können dritte Orte auch solche sein, an denen gerade kein sozialer Austausch stattfindet. Wenn man beispielsweise an die Bedürfnisse von Menschen mit sozialen Ängsten oder solchen, die schlicht und einfach erschöpft sind, innerhalb von Städten denkt, kann eine Parkbank zum dritten Ort werden. Es geht also nicht nur um Begegnung, sondern grundsätzlich um die eigene, sichere Verortung im öffentlichen Raum. So verstanden umfasst das Konzept des dritten Ortes eine Vielzahl gelebter Raumbeziehungen, die jenseits gängiger urbanistischer oder sozialpolitischer Zuschreibungen funktionieren. Das Projekt basiert auf der Annahme, dass Räume nicht neutral sind, sondern durch soziale Beziehungen, Alltagspraktiken und materielle Spuren geformt werden. Gesellschaftliche Perspektiven und individuelle Fragen greifen ineinander: Wem gehört die Stadt – und wer schreibt ihre, damit auch unsere Geschichte? Was bleibt unsichtbar? Wer sind "wir" – und wie sichtbar ist meine Community? Welche verschütteten oder nie erzählten Geschichten lassen sich (wieder)finden? Und: Kann ich in dieser Stadt überhaupt etwas verändern?
Wer produziert den Stadtraum?
Der Soziologe Henri Lefebvre analysierte in Die Produktion des Raumes (1974) und Das Recht auf Stadt (1968) den Stadtraum als genuin gesellschaftliches Produkt. Raum ist für ihn nicht einfach ein Behälter oder Rahmen, sondern zugleich Werk, Werkzeug und Mittel der sozialen Produktion. Für die Analyse urbaner Wirklichkeit heißt das: Nicht nur die Dinge im Raum sind zu betrachten, sondern der Raum selbst mitsamt den in ihn eingeschriebenen Machtverhältnissen. Für uns als Bewohner*innen bedeutet das, dass wir die Stadt in all ihrer Komplexität häufig als etwas bereits Gemachtes vorfinden; als Struktur, in der wir uns oft in eine passive Rolle gedrängt fühlen und die unveränderbar erscheint. Jedoch wird mit Blick auf Lefebvre deutlich, dass wir selbst Teil jenes Prozesses sind, in dem sich Stadt gegenwärtig und historisch konstituiert – den Handlungsrahmen bestimmen aber dennoch die sozioökonomischen Ausgangsbedingungen. Während Lefebvre den Blick auf strukturelle Prozesse richtet, interessiert sich der Kulturphilosoph Michel de Certeau in Die Kunst des Handelns (1980) für die mikrosozialen Alltagspraktiken. Er unterscheidet zwischen strategischem Handeln (von Institutionen, Verwaltungen oder Konzernen) und taktischem Handeln, das von unten, situativ, improvisierend, ohne strukturelle Macht agiert. Damit meint er das Handeln von einzelnen Menschen im Stadtraum, individuell oder verstreut im Kollektiv, denen keine Handlungsmacht eigen ist. Ein zentrales Beispiel dafür ist das Spazierengehen in der Stadt, das de Certeau mit dem Sprechen einer Sprache vergleicht: Jeder Schritt, jede Richtungsänderung ist ein Ausdruck individueller Bedeutungsproduktion. So entstehen aus der Nähe lebendige Stadttexte, jenseits strategischer Planung. Solche taktischen Praktiken finden sich in der Erforschung von jenen dritten Orten: Ziel ist nicht die Repräsentation offizieller Strukturen, sondern das Sichtbarmachen des Eigensinnigen, Beiläufigen, Lebensweltlichen. Orte werden nicht einfach archiviert, sondern als soziale, erinnerbare und bedeutungsvolle Räume neu produziert. de Certeau nennt dieses Handeln auch die "Kunst der Schwachen".
Erinnern abseits der Institutionen
Die Idee, dass kollektive Erinnerung außerhalb von „offiziellen“ Institutionen stattfinden kann, ist nicht neu. Bereits in den 1980er-Jahren prägte der Historiker Pierre Nora das Konzept der Erinnerungsorte (lieux de mémoire) als Reaktion auf eine Situation, die er als allmählichen Zerfall des gemeinschaftlich gelebten Gedächtnisses (milieux de mémoire) diagnostizierte. Erinnerungsorte versteht Nora als symbolisch verdichtete Formen kollektiver Erinnerung. Das können Orte, Objekte, Praktiken, Daten oder Texte sein, die entstehen, wenn das soziale Gedächtnis nicht mehr selbstverständlich im Alltag fortlebt. Sie markieren den Übergang von lebendiger Erinnerung zu (bewusst inszenierter) Geschichtskultur und verweisen auf Prozesse der Kanonisierung, Deutung und Identitätsbildung innerhalb einer Gesellschaft. Die Crux hierbei ist die Deutungshoheit, die in solchen Prozessen selten diejenigen haben, die gesellschaftlich marginalisiert sind. Denn wer definiert, was erinnerungswürdig ist? Im Projekt Dritte*Orte Archiv wird das Konzept des Erinnerungsortes aktualisiert und politisiert, indem vermeintlich unspektakuläre Alltagsorte wie Kioske oder Copyshops über Erzählungen, Geräusche und Gegenstände als erinnerungswürdig verstanden werden . Das Archiv macht sichtbar, wie Erinnerung jenseits offizieller Monumente existiert – fragmentiert, lebendig, subjektiv – und dennoch dokumentierbar.
Gegeninstitutionelles Forschen und Sammeln
Die Kartografie der Dinge ist ein ästhetisch-ethnografischer Ansatz, der sich zwar an wissenschaftlichen Begriffen orientiert, diese jedoch aneignend umdeutet. Die Teilnehmenden, die sich ihre Forscher*innenwesten und den dazugehörigen Rucksack anziehen und ins Feld gehen, betreiben keine Konservierung im klassischen, musealen Sinne noch folgen sie erinnerungspolitischen Normen. Abseits von festgelegten Klassifikationen kommen Dinge, und damit Orte, auf Basis ihrer emotionalen, sozialen oder atmosphärischen Bedeutung ins Archiv. Qualitäten, die sich kaum quantifizieren lassen. Die Annäherung an Vergangenheit, Gegenwart und potentielle Zukunft geschieht über die Autorität des persönlichen Zugangs. Entscheidend beim Sammeln von Erzählungen, Erinnerungen, Fotos, Geräusche, Gegenständen oder sogar Gerüchen ist nicht ihre offizielle Relevanz, sondern ihr (vormals) gelebter, subjektiver Wert. Dabei können es sowohl gegenwärtige Alltagsräume als auch Spuren der Vergangenheit sein, die nur noch in materiellen Fragmenten oder Erzählungen überlebt haben. Verstehen wir die Methode als gegen-institutionelle und fragmentarische Erinnerungsarbeit, wird der Raum für alternative, nicht-lineare, vielstimmige oder verdrängte Geschichte(n), die nicht in ein dominantes Narrativ passen, geöffnet. Ein zentraler theoretischer Impulsgeber in diesem Zusammenhang ist Walter Benjamin. In seinem Passagen-Werk und anderen Schriften untersuchte Benjamin Alltagsgegenstände, architektonische Räume, Texte und Materialien als Träger historischer Erfahrung. Besonders deutlich wird dies in seinem Konzept des dialektischen Bildes. Es beschreibt jene Momente, in denen Vergangenes und Gegenwärtiges in einem Objekt oder einer Situation ineinandergreifen und Geschichte sinnlich erfahrbar machen. Ein solches „Bild“ kann ein Ladenschild, ein Zeitungsausschnitt oder ein Straßengeräusch sein. Für Benjamin sind solche Dinge keine bloßen Zeugnisse, sondern verdichtete Bedeutungsräume, in denen sich Geschichte aktualisiert. Erinnern bedeutet für ihn nicht, eine lineare Chronologie nachzuvollziehen, sondern vielmehr, wie ein Archäologe die Bruchstücke der Vergangenheit Schicht für Schicht aus einem sedimentierten Gefüge herauszuarbeiten und in neue Kontexte zu stellen – wie er es beispielsweise in seinem Text Ausgraben und Erinnern beschreibt. In diesem Sinne wird Erinnerung zu einer Form des Widerstands gegen das Vergessen: ein aktiver, oft mühsamer Prozess der Aneignung, Kontextualisierung und Sichtbarmachung. Das Archiv ist dabei nicht bloß ein Speicher von Daten, sondern ein erfahrbarer, atmosphärischer Raum, in dem Geschichte nicht nur gesammelt, sondern auch aktiviert wird.
Diese Aktivierung findet ihren konkreten Ausdruck im digitalen wie im analogen Raum. Die gesammelten Objekte, Erinnerungen, Geschichten und Atmosphären werden digital aufbereitet und öffentlich zugänglich gemacht. Auf der Projekt-Website entsteht so ein wachsendes Archiv, das nicht nur als Speicher, sondern als Erzählraum funktioniert. Jede Eintragung trägt zur kollektiven Kartografie jener vergessenen oder übersehenen Orte bei. Vor allem aber können unvorhersehbare Verknüpfungen zwischen zwei oder mehreren Objekten entstehen und so werden durch die Montage von heterogenem Material bisher unbekannte Geschichte(n) erzählbar. Parallel wird das Archiv in Form des Stadtmobils lebendig gehalten. Hierbei handelt es sich um einen mobilen Anhänger mit Material zur Beteiligung und einer Stadtkarte. Es dient als temporärer Erinnerungsraum, in dem Passantinnen Objekte, Geschichten oder Orte beitragen können. Durch spontane Gespräche, Markierungen auf der Karte oder Audioaufnahmen entsteht so eine kollektive Kartierung vergessener Orte. Vermittlerinnen begleiten das Format, laden zur Teilhabe ein und dokumentieren Beiträge. So ist die Kartografie der Dinge unmittelbar und niedrigschwellig erfahrbar, nah an den Lebensrealitäten der Stadt.
Ästhetische Souveränität
Ein zentrales Anliegen des Projekts ist es, Teilhabe nicht nur als methodisches Mittel, sondern als ästhetisches Prinzip zu begreifen. Die Teilnehmerinnen agieren nicht nur als Forscherinnen sondern ebenso als Künstlerinnen. In dem Moment, in dem sie Dinge auswählen, Erinnerungen erzählen oder Orte erfahrbar machen, treffen sie ästhetische Entscheidungen und verhelfen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem Ausdruck. Sie sammeln, wählen aus, erzählen, interpretieren. Sie entscheiden, welche Orte und Dinge Bedeutung bekommen, in welcher Form sie zugänglich gemacht werden – visuell, auditiv, erzählerisch. Damit wird die klassische Grenze zwischen den Betrachtenden und den Betrachteten, zwischen Expertinnen und Laien, bewusst unterlaufen. Diese Verbindung von Ästhetik, Alltag und Teilhabe steht in der Tradition partizipativ-aktivistischer Kunstproduktion. Bereits Joseph Beuys’ Konzept der sozialen Plastik stellte die Vorstellung infrage, dass künstlerisches Handeln an Autorschaft oder Genie gebunden sei. Vielmehr sei jeder Mensch eine Künstlerin, sofern er oder sie zur produktiven Gestaltung der Gesellschaft beitrage. Diese vieldiskutierte Idee greift beispielsweise der Kunsthistoriker Grant H. Kester in mehreren Werken, wie Beyond the Sovereign Self: Aesthetic Autonomy from the Avant-Garde to Socially Engaged Art (2023), auf. Er kritisiert den traditionellen Autonomiebegriff, der Kunst an ihre Abgrenzung von Politik, Zweck und Alltag koppelt. Dieses Modell ist meist mit der Vorstellung eines souveränen, isolierten Künstlerinnen-Subjekt verknüpft. Kester schlägt stattdessen den Begriff einer relationalen Autonomie vor: Autonomie entsteht nicht im Rückzug vom Sozialen, sondern gerade durch den sozialen Prozess selbst, sei es durch Zuhören, Dialog, Fürsorge oder geteilte Verantwortung. In dieser Perspektive ist partizipative Kunst keine Aufweichung ästhetischer Freiheit, sondern deren Neubegründung; jedoch nicht als Ausdruck isolierter Autorschaft, sondern als gemeinsame Handlung mit offenem Ausgang. Die künstlerisch-forschenden Teilnehmerinnen werden selbst zu souveränen Akteur*innen. Ihr subjektiver Blick, ihr Erleben und ihre Entscheidungen sind integraler Bestandteil der Erkenntnis- und Gestaltungsprozesse. Mit Claire Bishops produktiver Kritik an partizipativen Konzepten Artificial Hells (2012) lässt sich dieser Gedanke noch mit Blick auf die Rezeption erweitern. Sie warnt davor, partizipative Kunst ausschließlich nach moralischen Kriterien zu bewerten – etwa danach, wie inklusiv, gerecht oder nützlich ein Projekt ist. Eine solche moralische Bewertung reduziert Kunst auf ihre soziale Funktion und blendet ästhetische Aspekte wie Form und Irritation oder eine mögliche Wahrnehmungsverschiebung aus. Bishop plädiert daher für ein Verständnis, das Reibung, Konflikt und Ambivalenz nicht nur zulässt, sondern als zentrale künstlerische Qualitäten anerkennt. Denn: Wenn Teilhabe allein daran gemessen wird, wie „gut“ oder „gerecht“ sie ist, werden künstlerische Gestaltungen schnell als zu provokant, zu unklar oder nicht „sensibel genug“ diskutiert. Doch gerade diese Ambivalenz – ein irritierender Ton, ein sperriges Narrativ, eine ungewohnte Perspektive – kann Reflexionsprozesse erst anstoßen. In diesem Sinne ist nicht die moralisch einwandfreie Umsetzung entscheidend, in der den Teilnehmenden ein Regelkanon von außen aufgedrängt wird, sondern die Fähigkeit des Projekts, Differenz auszuhalten, Wahrnehmung zu öffnen und neue Sichtweisen zu ermöglichen. Entscheidend ist daher nicht, ob etwas „korrekt“ im Sinne eines externen Wertekanons ist, sondern ob es die Fähigkeit besitzt, kollektive Gestaltung jenseits hegemonialer Erwartungen zu ermöglichen. Jede*r soll in diesem Archiv auf eigene Weise, mit eigener Formensprache und im Rahmen der jeweils eigenen Möglichkeiten die Chance haben, der eigenen Verortung innerhalb der Stadt Ausdruck zu verleihen; jenen Fragmenten, die sonst im Verborgenen bleiben würden. Subjektiv, vielfältig und widersprüchlich.
Dritte Orte*Archiv und die Methode der Kartografie der Dinge müssen somit an der Schnittstelle von ästhetischer Produktion und Erfahrung, kollektivem Erinnern, Teilhabe und Selbstwirksamkeit verstanden werden; in einem Spannungsverhältnis, in dem Widersprüche nicht aufgelöst, sondern sichtbar gemacht werden. Und in dem uns unsere unmittelbare Lebensumgebung als produziert und veränderbar zugleich entgegentritt. In Anlehnung an de Certeau kann das multidimensionale Erforschen, Sammeln, Konservieren, Ausstellen und Bewahren als Aufforderung an eine souveräne Stadtbevölkerung verstanden werden, kreativ und dialogisch in den offiziellen Text der Stadt einzugreifen.
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